0.101.2 |
Liechtensteinisches Landesgesetzblatt |
Jahrgang 1984 |
Nr. 10 |
ausgegeben am 25. Februar 1984 |
Europäisches Übereinkommen
über die an den Verfahren vor der Europäischen Kommission und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte teilnehmenden Personen
Abgeschlossen in London am 6. Mai 1969
Inkrafttreten für das Fürstentum Liechtenstein: 27. Februar 1984
Die Mitgliedstaaten des Europarats, die dieses Übereinkommen unterzeichnen,
im Hinblick auf die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im folgenden als "Konvention" bezeichnet);
in der Erwägung, dass es für eine bessere Verwirklichung der Ziele der Konvention wichtig ist, den Personen, die an Verfahren vor der Europäischen Kommission für Menschenrechte (im folgenden als "Kommission" bezeichnet) und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (im folgenden als "Gericht" bezeichnet) teilnehmen, bestimmte Befreiungen und Erleichterungen zu gewähren;
in dem Wunsch, zu diesem Zweck ein Übereinkommen zu schliessen, haben folgendes vereinbart:
Art. 1
1) Dieses Übereinkommen findet auf die folgenden Personen Anwendung:
a) Agenten der Vertragsparteien und die sie unterstützenden Berater und Anwälte;
b) Personen, die in eigenem Namen oder als Vertreter eines der in Art. 25 der Konvention genannten Antragsteller an Verfahren, die nach Art. 25 vor der Kommission eingeleitet worden sind, teilnehmen;
c) Anwälte oder Professoren der Rechte, die an Verfahren teilnehmen, um einer der unter Bst. b genannten Personen beizustehen;
d) Personen, die die Vertreter der Kommission zu ihrer Unterstützung im Verfahren vor dem Gericht bezeichnet haben;
e) Zeugen und Sachverständige sowie andere Personen, die auf Vorladung der Kommission oder des Gerichts an Verfahren vor der Kommission oder dem Gericht teilnehmen.
2) Für die Zwecke dieses Übereinkommens fällt unter die Begriffe "Kommission" und "Gericht" auch ein Unterausschuss, eine Kammer oder Mitglieder dieser beiden Gremien, wenn sie ihre Aufgaben nach den Bestimmungen der Konvention oder den Verfahrensordnungen der Kommission oder des Gerichts ausüben; unter den Begriff "am Verfahren teilnehmen" fällt auch das Einreichen von vorbereitenden Mitteilungen für eine Beschwerde gegen einen Staat, der das Recht auf Individualbeschwerde nach Art. 25 der Konvention anerkannt hat.
3) Fordert der Ministerausschuss bei der Ausübung seiner Befugnisse nach Art. 32 der Konvention eine in Abs. 1 dieses Artikels erwähnte Person auf, vor dem Ministerausschuss zu erscheinen oder bei ihm schriftliche Erklärungen einzureichen, so finden auf diese Person die Vorschriften dieses Übereinkommens Anwendung.
Art. 2
1) Die in Art. 1 Abs. 1 dieses Übereinkommens genannten Personen geniessen Immunität von der Gerichtsbarkeit in bezug auf die mündlichen und schriftlichen Erklärungen, die sie gegenüber der Kommission oder dem Gericht abgegeben, und die Urkunden und anderen Beweismittel, die sie bei der Kommission oder dem Gericht eingereicht haben.
2) Diese Befreiung von der Gerichtsbarkeit besteht nicht, wenn Personen, denen nach dem vorstehenden Absatz Immunität zukommt, Erklärungen, Urkunden oder Beweismittel, die sie bei der Kommission oder dem Gericht abgeben bzw. eingereicht haben, ausserhalb der Kommission oder des Gerichts ganz oder teilweise bekanntmachen oder bekanntmachen lassen.
Art. 3
1) Die Vertragsparteien erkennen das Recht der in Art. 1 Abs. 1 dieses Übereinkommens angeführten Personen auf ungehinderten schriftlichen Verkehr mit der Kommission oder dem Gericht an.
2) Für inhaftierte Personen gehört zur Ausübung dieses Rechts insbesondere folgendes:
a) im Falle der Überwachung ihres schriftlichen Verkehrs durch die zuständigen Behörden muss die Absendung und Aushändigung ohne übermässige Verzögerung und ohne Änderung erfolgen;
b) wegen einer Mitteilung, die diese Personen der Kommission oder dem Gericht auf ordnungsgemässem Wege zugesandt haben, dürfen gegen sie keine disziplinarischen Massnahmen in irgendeiner Form ergriffen werden;
c) diese Personen sind berechtigt, über eine Beschwerde an die Kommission und ein sich daraus ergebendes Verfahren mit einem Anwalt, der vor den Gerichten des Staates, in dem sie inhaftiert sind, zugelassen ist, Briefe zu wechseln und sich mit ihm zu beraten, ohne dass irgendeine andere Person zuhört.
3) Bei der Anwendung der vorstehenden Absätze sind weitere Eingriffe einer öffentlichen Behörde nur statthaft, soweit dies gesetzlich vorgesehen ist und in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der Aufdeckung und Verfolgung von Straftaten oder des Schutzes der Gesundheit notwendig ist.
Art. 4
1)
a) Die Vertragsparteien verpflichten sich, die in Art. 1 Abs. 1 dieses Übereinkommens genannten Personen, deren Anwesenheit die Kommission oder das Gericht vorher gestattet hat, nicht zu hindern, sich frei zu bewegen und zu reisen, um an den Verfahren vor der Kommission oder dem Gericht teilzunehmen und danach wieder zurückzukehren.
b) Die Ausübung dieser Bewegungs- und Reisefreiheit darf keinen anderen Einschränkungen unterworfen werden als denen, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen und öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, der Verhütung von Straftaten, des Schutzes der Gesundheit und der Moral und des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind.
2)
a) Diese Personen dürfen in Durchgangsstaaten oder in dem Staat, in dem das Verfahren stattfindet, wegen Handlungen oder Verurteilungen aus der Zeit vor Beginn ihrer Reise weder verfolgt, noch in Haft gehalten, noch einer sonstigen Beschränkung ihrer persönlichen Freiheit unterworfen werden.
b) Jede Vertragspartei kann bei der Unterzeichnung oder Ratifizierung dieses Übereinkommens erklären, dass die Vorschriften dieses Absatzes nicht auf ihre eigenen Staatsangehörigen Anwendung finden. Eine solche Erklärung kann jederzeit im Wege einer an den Generalsekretär des Europarats gerichteten Notifikation zurückgenommen werden.
3) Die Vertragsparteien verpflichten sich, jeder Person, die die Reise in ihrem Hoheitsgebiet angetreten hat, die Rückkehr in dieses Gebiet zu gestatten.
4) Die Vorschriften der Abs. 1 und 2 dieses Artikels werden nicht mehr angewandt, wenn der Betreffende innerhalb von 15 aufeinanderfolgenden Tagen, nachdem seine Anwesenheit von der Kommission oder dem Gericht nicht mehr verlangt wurde, die Möglichkeit gehabt hat, in das Land, in dem er seine Reise begonnen hatte, zurückzukehren.
5) Bei einem Widerspruch zwischen den sich aus Abs. 2 dieses Artikels ergebenden Verpflichtungen einer Vertragspartei und Verpflichtungen, die sich aus einer Europaratskonvention, einem Auslieferungsvertrag oder einem anderen Rechtshilfevertrag in Strafsachen mit anderen Vertragsparteien ergeben, gehen die Vorschriften des Abs. 2 vor.
Art. 5
1) Befreiungen und Erleichterungen werden in Art. 1 Abs. 1 dieses Übereinkommens genannten Personen nur gewährt, um ihnen die Redefreiheit und Unabhängigkeit zu garantieren, die für die Erledigung ihrer Funktionen, Aufgaben und Pflichten oder für die Wahrnehmung ihrer Rechte gegenüber der Kommission oder dem Gericht erforderlich sind.
2)
a) Die Kommission oder gegebenenfalls das Gericht ist allein zuständig, die in Art. 2 Abs. 1 vorgesehene Immunität ganz oder teilweise aufzuheben; sie haben nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, die Immunität in allen Fällen aufzuheben, in denen nach ihrer Auffassung diese Immunität verhindern würde, dass der Gerechtigkeit Genüge geschieht und in denen die vollständige oder teilweise Aufhebung der Immunität die in Abs. 1 dieses Artikels bestimmten Zwecke nicht beeinträchtigt.
b) Die Kommission und das Gericht können von Amts wegen oder auf einen an den Generalsekretär des Europarats gerichteten Antrag einer Vertragspartei oder einer betroffenen Person die Immunität aufheben.
c) Die Entscheidungen, welche die Aufhebung der Immunität betreffen, sind zu begründen.
3) Bescheinigt eine Vertragspartei, dass die Aufhebung der in Art. 2 Abs. 1 dieses Übereinkommens vorgesehenen Immunität für ein Verfahren wegen eines Verstosses gegen die nationale Sicherheit erforderlich ist, so hebt die Kommission oder das Gericht die Immunität in dem in der Bescheinigung angegebenen Masse auf.
4) Wird nach einer Entscheidung, durch die die Aufhebung der Immunität versagt worden ist, eine Tatsache bekannt, die geeignet gewesen wäre, einen massgeblichen Einfluss auf die Entscheidung auszuüben, so kann der Antragsteller, falls ihm die Tatsache ebenfalls nicht bekannt war, bei der Kommission oder dem Gericht einen neuen Antrag stellen.
Art. 6
Nichts in diesem Übereinkommen darf als Einschränkung oder Aufhebung der Verpflichtungen, die die Vertragsparteien aufgrund der Konvention übernommen haben, ausgelegt werden.
Art. 7
1) Dieses Übereinkommen liegt für die Mitgliedstaaten des Europarats zur Unterzeichnung auf; sie können Vertragspartei werden,
a) indem sie es ohne Vorbehalt der Ratifikation oder der Annahme unterzeichnen, oder
b) indem sie es unter Vorbehalt der Ratifikation oder Annahme unterzeichnen und später ratifizieren oder annehmen.
2) Die Ratifikations- oder Annahmeurkunden werden beim Generalsekretär des Europarats hinterlegt.
Art. 8
1) Dieses Übereinkommen tritt einen Monat nach dem Zeitpunkt in Kraft, an dem fünf Mitgliedstaaten des Rates nach Art. 7 Vertragsparteien des Übereinkommens geworden sind.
2) Für jeden Mitgliedstaat, der das Übereinkommen in einem späteren Zeitpunkt ohne Vorbehalt der Ratifikation oder Annahme unterzeichnet oder der es ratifiziert oder annimmt, tritt es einen Monat nach dem Tag der Unterzeichnung oder der Hinterlegung der Ratifikations- oder Annahmeurkunde in Kraft.
Art. 9
1) Jede Vertragspartei kann bei der Unterzeichnung oder bei der Hinterlegung ihrer Ratifikations- oder Annahmeurkunde dasjenige oder die Hoheitsgebiete bezeichnen, auf die dieses Übereinkommen Anwendung findet.
2) Jede Vertragspartei kann bei der Hinterlegung ihrer Ratifikations- oder Annahmeurkunde oder jederzeit danach durch eine an den Generalsekretär des Europarats gerichtete Erklärung dieses Übereinkommen auf jedes weitere in der Erklärung bezeichnete Hoheitsgebiet erstrecken, dessen internationale Beziehungen sie wahrnimmt oder für das sie Vereinbarungen treffen kann.
3) Jede nach Abs. 2 abgegebene Erklärung kann in bezug auf jedes darin genannte Hoheitsgebiet gemäss dem in Art. 10 dieses Übereinkommens vorgesehenen Verfahren zurückgenommen werden.
Art. 10
1) Dieses Übereinkommen bleibt auf unbegrenzte Zeit in Kraft.
2) Jede Vertragspartei kann durch eine an den Generalsekretär des Europarats gerichtete Notifikation dieses Übereinkommen für sich kündigen.
3) Diese Kündigung wird sechs Monate nach dem Eingang der Notifikation beim Generalsekretär wirksam. Sie bewirkt jedoch nicht die Entlassung der betreffenden Vertragspartei aus all jenen Verpflichtungen, die sich gegebenenfalls aus diesem Übereinkommen gegenüber einer der in Art. 1 Abs. 1 genannten Personen ergeben haben.
Art. 11
Der Generalsekretär des Europarats notifiziert den Mitgliedstaaten des Rates:
a) jede Unterzeichnung ohne Vorbehalt der Ratifikation oder Annahme;
b) jede Unterzeichnung unter Vorbehalt der Ratifikation oder Annahme;
c) jede Hinterlegung einer Ratifikations- oder Annahmeurkunde;
d) jeden Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Übereinkommens nach seinem Art. 8;
e) jede nach Art. 4 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 und 3 eingegangene Erklärung;
f) jede Notifikation, mit der eine Erklärung nach Art. 4 Abs. 2 zurückgenommen wird, und jede nach Art. 10 eingegangene Notifikation und den Zeitpunkt, an dem die Kündigung wirksam wird.
Zu Urkund dessen haben die hierzu gehörig befugten Unterzeichneten dieses Übereinkommen unterschrieben.
Geschehen zu London am 6. Mai 1969 in englischer und französischer Sprache, wobei jeder Wortlaut gleichermassen verbindlich ist, in einer Urschrift, die im Archiv des Europarats hinterlegt wird. Der Generalsekretär des Europarats übermittelt allen Unterzeichnerstaaten beglaubigte Abschriften.
(Es folgen die Unterschriften)
Erklärung
Liechtenstein
Das Fürstentum Liechtenstein wird die Bestimmung von Art. 4 Abs. 2 Bst. a des Übereinkommens auf liechtensteinische Staatsangehörige nicht anwenden.